Wer war Rafiq al-Hariri?

Graffito: Beirut Revolution Now

Beirut, 14.05.2005. Die Küstenstraße Corniche wird Schauplatz einer der schwersten Terroranschläge im Libanon. Ein Sprengstoffanschlag reißt über 22 Menschen in den Tod und hinterlässt dutzende Verletzte. Ziel des Selbstmordattentats war Rafiq al-Hariri, der jahrelang Ministerpräsident im Libanon gewesen war. Nach 15 Jahren gibt es nun einen Schuldspruch. Doch wer war dieser Mann, der maßgeblich den mittleren Osten beeinflusste, obwohl ihn nur wenige Europäer kennen?

Geboren im Pulverfass

Rafiq al-Hariri wurde 1944 in Sidon geboren, einer kleinen Hafenstadt im Süden Libanons. In Beirut studiert verdiente der Sunnit sein Geld in Saudi-Arabien. Durch den Ölboom und seiner späteren Firma „Saudi Oger“ wurde er zum Multimillionär. Diese Firma war maßgeblich am Wiederaufbau des Libanons beteiligt. Noch heute besitzt seine Familie einen Großteil der Innenstadt Beiruts, die er mit seinen Investitionen aus den Trümmern hob. Deswegen war er unter der Zivilbevölkerung und vor allem im Westen beliebt. Er gilt als Architekt eines Libanons, das vom Krieg vollständig zerstört war.

Von 1970 bis 1989 tobte ein schrecklicher Bürgerkrieg im Zedernland. Verschiedene bewaffnete Gruppen bekämpften sich, vor allem konfessionelle Milizen, aber auch die palästinensische PLO unter Jassir Arafat waren am Konflikt beteiligt. 1982 intervenierte sogar die israelische Armee und kämpfte dort unter dem Motto „Frieden für Galiläa“ gegen die PLO, mehrere lokale Milizen und vor allem gegen syrische Truppen. Doch will man die Rolle umliegender Länder einordnen, muss man erst die Spannungen im Inland verstehen.

Der Libanon war und ist noch immer ein zutiefst gespaltenes Land. Das Wahlrecht der Bürger ist an ihre religiöse Konfession gekoppelt. So steht den maronitischen Christen zum Beispiel 34 von 128 Paralamentssitzen zu. Bestimmte Ämter sind Religionszugehörigkeiten zugeordnet. Im Amt des Staatspräsidenten fungiert immer ein Christ, im Amt des Ministerpräsidenten immer ein Sunnit und so weiter. In Deutschland sind solche Regelungen undenkbar, eine Konkordanzdemokratie widerspricht unserem Verständnis einer demokratischen Mehrheitsentscheidung. Die homogene Bevölkerungsstruktur ermöglicht Deutschland, nicht schon bei Grundsatzdebatten zu scheitern. Niemand denkt auch nur im Traum daran, Elsaß-Lothringen „zurückzuerhalten“. Im Libanon ist das Demokratieverständnis jedoch anders.

Jede Volks- und Religionsgruppe muss in den Entscheidungen des Parlaments berücksichtigen werden, um weitere Kämpfe und Kriege zu vermeiden und den Frieden in einem Konsens zu wahren. So wird die Innenpolitik eigentlich eine Form von Außenpolitik. Von Einheit kann nicht die Rede sein und schon gar nicht von Säkularisierung. Unter so unterschiedlichen Weltanschauungen sind Einigungen schwer zu erzielen und ein brüchiger Konsens bietet ein gewaltiges Konfliktpotential, das sich in Anschlägen und Gewaltakten manifestiert. So gab es innerhalb der letzten Jahre viele Terroanschläge im ganzen Libanon.

Ein Revolution in Grün

Der Libanon ist ein Krisenherd, und das nicht nur seit den letzten 10 Jahren. Ein Frieden unter derart verschiedenen Parteien ist immer bloß ein instabiler Frieden. Doch einen solchen Frieden gab es unter der Regierung Rafiq al-Hariris, der als Ministerpräsident mehere Regierungen führte. Wenn auch wenn seine Amtszeit 2004 endete, war er ein hochangesehener Mensch im Libanon, dessen Wort Gewicht besaß. Seine Investitionen in den 90ern bauten ein Land aus Schutt und Asche auf, auch wenn seine Politik kritisiert wurde, da die Staatsverschuldung wuchs.

Sein milliardenschweres Privatvermögen verwalten heute seine Kinder. Dem Hariri-Clan privat gehört zu großen Teilen der Stadtkern Beiruts, der Hauptstadt des Libanons. Sein zweiter Sohn, Saad Al-Hariri, war bis 2019 selbst Ministerpräsident des Libanons und wurde erst vor wenigen Tagen wieder ins Amt berufen. Doch sein Sohn soll nicht das Thema sein, seine Amtszeiten wäre eine eigene Reportage wert.

Rafiq al-Hariris Tod löste eine Regierungskrise und eine Revolution aus, die sogenannte Zedernrevolution. Vor allem junge Menschen waren auf der Straße und drängten auf den Abzug der syrischen Truppen. Hariri selbst hatte sich mehrfach kritisch gegen die syrische Politik geäußert, deren Militär und Geheimdienst nach Ende des Bürgerkriegs den Libanon nicht verlassen hatten. Sein Amtsnachfolger Omar Karami war dagegen prosyrisch eingestellt und wollte nichts an dem Umstand der Besetzung ändern. Dann starb Hariri und es begannen die Demonstrationen. Die Demonstranten verstanden sich dieses Mal nicht als Mitglieder einer Konfession oder eines Volkes, sondern als Libanesen und als Staatsbürger. Daher stammt der Name Zedernrevolution, den eigentlich eine US-Pressekonferenz prägte, in Anlehnung an die „Rosenrevolution“ in Georgien.

Die Demonstranten erreichten den Rücktritt der Regierung Karamis und den vollständigen Abzug syrischer Truppen aus dem Libanon. Die andere große Militärmacht Israel zog sich erst ein Jahr später zurück, nach langen Gefechten mit der Hisbollah-Miliz.

In Deutschland gilt die schiitische Hisbollah als Terrororganisation und ist demnach verboten, im Libanon jedoch sind sie neben ihrer militärischen Stärke gleichberechtigt im libanesischen Parlament vertreten. Syrien und die Hisbollah-Miliz werden beschuldigt, den Anschlag auf Rafiq al-Hariri angeleitet zu haben. Beide Parteien streiten dies vehement ab.

Wenige Schuldige, weitere Streitigkeiten

Am 18.08.2020, 15 Jahre nach dem Anschlag, urteilte ein UN-Tribunal, das extra für diesen Anschlag einberufen wurde. Ein Angeklagter wurde schuldig gesprochen, drei weitere Angeklagte aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Das Straßmaß wurde noch nicht verhängt. Alle vier Angeklaten sollen mutmaßlich der Hisbollah nahestehen, was die schiitische Miliz dementiert. Das Gericht betonte, dass trotz möglicher Motive keine Beweise vorliegen, die eine Verwicklung der Hisbollah oder Syriens belegen. Dennoch begrüßt der Sohn des Ermordeten das Urteil.

Das Tribunal selbst ist ein historisches Ereignis, denn es war das erste internationale Gericht, das jemals zu einem Terroranschlag urteilte. Dem Gericht gingen jahrelange Spannungen voraus. Der erste Bericht für die Vereinten Nationen stellte die Unmöglichkeit heraus, einen Täter zu bestimmen, solange libanesische Behörden die Aufsicht darüber hätten. So wurde die richterliche Gewalt an die Vereinten Nationen und somit an jenes Tribunal übergeben. Das Urteil ist mehr als nur ein Schuldspruch. Es ist der Mittelpunkt einer diplomatischen Verwicklung auf Messers Schneide.

Der Libanon trägt noch heute seine Narben von diesem Anschlag. Das Urteil glättet nicht die Fronten, es schürt sie mehr an. Die internationale Gemeinschaft ist dabei, den Konflikt vor Ort zu entschärfen. Nicht ohne Grund patrouillieren in der UN-Mission „Unifil“ auch 150 Bundeswehrsoldaten vor den Küsten Libanons und Israels, um die Grenze zu wahren und für das Einhalten der Abkommen zu sorgen.

Rafiq al Hariri war eine bedeutende Person. An seinem gewaltsamen Tod sieht man die tiefen Risse, die sich durch den Libanon ziehen. Die Vereinten Nationen versuchen, diese Risse zu schließen. Doch die Gräben zwischen allen Parteien sind tief. Man kann nur hoffen, dass sie nicht noch tiefer werden.

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