Taiwan in der Rolle des Game-Changers

Wie chinesisch ist Taiwan?“ titelte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) Anfang September 2022. Eine Frage, auf die die Antworten kaum unterschiedlicher sein könnten. Je nach Perspektive, ist die Insel entweder rechtmäßig oder unrechtmäßig abtrünniger Teil Chinas. Bereits seit Mitte des Zweiten Weltkrieges – heute, unter Staatspräsident Xi Jinping jedoch ehrgeiziger denn je – verfolgt die 1949 gegründete Volksrepublik China das Ziel, Festland und Insel zu vereinen. Die Rede ist von einer „Wiedervereinigung“, von der der Großteil der Taiwanesen jedoch nichts wissen will. Die gegenwärtigen Militärübungen Chinas zeigen deutlich, wie ernst der Volksrepublik dieses Anliegen ist – aber warum überhaupt?

Die „Wiedervereinigung“ wird von Seiten der chinesischen Regierung als der „Chinesische Traum“ und als Teil einer „historischen Mission“ kommuniziert. Die sogenannte „Erneuerung des chinesischen Volkes“ gilt als Lebensaufgabe Xi Jinpings. Über konkretere Beweggründe, etwa die sicherheitspolitische Rolle Taiwans, wird weitestgehend geschwiegen.

Bevor wir klären, wieso China die Insel Taiwan erobern möchte, schauen wir uns zunächst einmal an, wieso es überhaupt zwei verschiedene Staaten gibt, die in ihrer rechtlichen Bezeichnung (Volksrepublik China und Republik China) beide den Titel „China“ innehaben und in denen heute sogar größtenteils dieselbe Sprache gesprochen wird.

Das heutige Taiwan entstand durch eine Fluchtbewegung. Als die Japaner mit Ende des Zweiten Weltkrieges die Besetzung der damaligen, auch festländischen Republik China beendeten, brach ein Bürgerkrieg um die Frage der Macht aus. Die Kommunisten unter Mao Zedong gewannen diesen Krieg. Auf dem Festland entstand die kommunistisch-diktatorische Volksrepublik China. Teile des während der japanischen Kolonialzeit demokratisierten Volkes, die Vertreter der bis dahin existent gewesenen Republik China und Verlierer dieses Krieges, flohen auf die Insel Taiwan. Dort setzten sie ihren alten Staat, die Republik China, fort, um Haft- und Todesstrafen zu entgehen.

Aufgrund der japanischen Kolonialisierung und der damit einhergehenden Modernisierung belegte Taiwan nach Ende des zweiten Weltkrieges Platz 2 der wirtschaftlich bestentwickelten Länder in Ostasien. Nur Japan selbst war noch weiterentwickelter. Als Vorzeigestaat und Exempel für andere Länder nahm der Inselstaat auch Einfluss auf internationale Politik.

Softpower im chinesischen Kontext

Der Begriff „Softpower“ wurde 1990, kurz vor Ende des Kalten Kriegen und mit Zusammenbruch der Sowjetunion, geformt. Dem amerikanischen Akademiker Joseph Nye zufolge kommt Softpower zum Einsatz, wenn ein Land seine eigenen Interessen zu den Interessen eines anderen Landes macht. Das stellt einen starken Kontrast zum üblichen Prozedere – der sogenannten „Hardpower“ – dar, wobei eigene Interessen nur durch Zwang durchgesetzt werden.

Den Nutzen von Softpower hat man mittlerweile auch in der Volksrepublik China begriffen und Softpower dort zu einer Art Staatsräson erklärt. Bereits im Jahre 2007 betonte der ehemalige Präsident Hu Jintao die Wichtigkeit von chinesischer Softpower und engagierte sich für die Stärkung dieser. Sein Nachfolger und amtierender Staatspräsident Xi Jinping setzt diese Strategie fort und betonte auch auf den folgenden Parteitagen die Relevanz der nationalen Softpower. Softpower sei essenziell für Chinas internationalen Status. Durch sie befinde sich das Land heute in der Position einer Großmacht.

Chinas Softpower in internationaler Diplomatie

Dass die taiwanesische Hauptstadt Taipeh einmal ganz China in internationalen Angelegenheiten repräsentiert hat, klingt heute fast surreal. Doch genau das war für über zwei Jahrzehnte, bis zum Jahre 1971, der Fall. Heute hat die Volksrepublik China ein besonderes Interesse daran, Taiwan von internationaler Politik auszuschließen. So blockierte Peking zum Beispiel die Teilhabe Taiwans an jeglichen Versammlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die zwischen 2017 und 2021 stattfanden. Taiwan wurde auf Grund massiven Widerstandes der Volksrepublik ebenso von der Weltstahlkonferenz 2016 in Brüssel, der im selben Jahr abgehaltenen Klimakonferenz von Paris sowie 2017 von der Initiative The Kimberly Process – die von sich selbst behauptet, für internationale Konfliktlösung zu stehen – ausgeschlossen. Ohne Einladung blieb dem Inselstaat auch die Teilhabe an der Versammlung der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) verwehrt. Eine Bewerbung um Teilnahme an der Generalversammlung von INTERPOL wurde 2019 ebenso abgesagt. Diese Ausschlüsse aus der internationalen Politik bleiben nicht ohne Folgen für Taiwan. Seit 2019 etwa betitelt die dänische Global Wind Organization (GWO) Taiwan als Provinz von China. Die GWO verweist auf die Vereinten Nationen (UN), die diese Bezeichnung so vorschreiben.

Taiwan wird seit den frühen Siebzigern auch in den UN, der wohl wichtigsten internationalen Organisation, nicht mehr repräsentiert. Zuvor erkannten die UN die Vertreter der Republik China noch als Vertreter ganz Chinas an. Auf Hinwirken einiger osteuropäischer und afrikanischer Staaten, ist seit 1971 die heutige Volksrepublik China Mitglied der Vereinten Nationen und soll dort an Stelle von Taiwan ganz China repräsentieren. Taiwan hingegen wurde der Organisation verwiesen. Die Volksrepublik, mittlerweile ständiges Mitglied, blockiert den (Wieder-) Eintritt seines Rivalen seitdem per Veto. Fast alle Länder, die sich diesem Vertretungswechsel entgegenstellten, brachen daraufhin trotzdem die diplomatischen Beziehungen zum Inselstaat ab. So auch die Vereinigten Staaten von Amerika.

Die Volksrepublik China engagiert sich in Bezug auf Taiwan heute selektiv in den Bereichen Sicherheit, Politik sowie Diplomatie, wodurch sie koordinierten Einfluss u.a. auf Ökonomie, Soziales und kulturelle Angelegenheiten nimmt. Seit einigen Jahren engagiert sich China insbesondere in der sowohl geografisch als auch diplomatisch eher taiwan-nahen Südpazifikregion und nimmt selbst diplomatische Beziehungen mit dortigen Staaten auf. Diesen Staaten gibt China unmissverständlich vor, wie sie mit Taiwan umzugehen haben. Staaten, die offizielle Beziehungen zur Volksrepublik pflegen, wurden ausdrücklich darum gebeten, die Bezeichnungen „Republik China“ und „Taiwan“ aus den Titeln offizieller Institutionen zu streichen. Diese würde der Inselstaat unrechtmäßig für sich beanspruchen. Stattdessen müsse die Rede von „Taipeh“ sein, was nicht zwangsläufig eine staatliche Unabhängigkeit assoziieren lässt, sondern die „Ein-China-Politik“ in den Fokus rückt. Die ehemals pro-taiwanesisch geprägten Länder Papua-Neuguinea und Fidschi etwa beugten sich diesem Wunsch und veranlassten dementsprechende Änderungen.

Der Gewinn des wirtschaftlichen Austauschs mit Papua-Neuguinea und Fidschi entpuppte sich als recht überschaubar. Mit teils lediglich 73 Mio. Dollar fiel der Handelsumsatz für China vergleichsweise gering aus. Der Vorteil, den diese Staaten für China bieten, ist ein anderer. China ist durch die Beziehungen zu den südpazifischen Staaten unabhängig von den USA, wenn es um den Handel von und nach Lateinamerika geht. Insbesondere Fidschi bietet sich hervorragend als Transitland an. Chinas Engagement in der politisch hochbrisanten und wenig harmonischen Asienpazifikregion ist auf eine Mischung aus Sorge um die hegemoniale Stabilität, das Kräftegleichgewicht und die kollektive Sicherheit zurückzuführen.

Nationale chinesische Sicherheitsinteressen können sich nur durch die Integration in die Weltpolitik entwickeln. Dazu zählt auch das Beibehalten bzw. Reformieren politischer Systeme, wie etwa das chinesische „Ein-Staat-Zwei-Systeme-Prinzip“. Durch grenzübergreifende Kooperationen können Kriterien für die Bewertung von Außen- und Sicherheitspolitik festgelegt sowie eine Kohärenz in diesem Bereich geschaffen werden. Zudem lässt sich auf diese Weise das Image eines Landes dem Rest der Welt gegenüber bewahren, womöglich sogar aufbessern. Dass die enge Zusammenarbeit mit den Pazifikstaaten mehr Strategie als nur einfaches Interesse an diplomatischen Beziehungen ist, gibt Chinas damaliger Premier Wen Jiabao im Jahre 2006 offen zu und wirbt gleichzeitig mit enormen Investitionen in die Partnerstaaten. Die Rede ist sogar offiziell von einem „Pro-Peking-Wahlblock“. Über die spezielle Rolle Taiwans in dieser Strategie wird jedoch geschwiegen. Unter Xi Jinping wurde diese politische Strategie noch aggressiver. Die Volksrepublik soll ihre Macht regionalisieren. Sie soll sich im asiatischen Pazifikraum repositionieren und Dominanz demonstrieren. Dafür riefen Außenminister Wang Yi und Xi Jinping den sogenannten „Asia-Pacific Dream“ ins Leben und stellten diesen 2014 während der Versammlung der Asia-Pacific Economic Cooperation vor. Dabei betonte man explizit die sicherheitspolitische Bedeutung dieser Vision.

China ist allerdings nicht das einzige Land, das sich im geopolitisch attraktiven Asienpazifikraum Sicherheitsmechanismen erschließt. Seit Ende des Kalten Krieges erhoffen sich auch andere Staaten Erfolge im Kampf gegen grenzübergreifende Kriminalität, aber eben auch militärisch-strategische Vorteile.

Die Rolle der USA

Taiwan ist bis heute eines der meistbedrohten Länder der Welt. Bereits 1949, kurz nachdem sich die Vertreter der Republik China auf der Insel Taiwan niederließen, erklärte die Volksrepublik China öffentlich, Taiwan mit allen notwendigen Mitteln „zurückerobern“ zu wollen. Dafür würde man auch Waffengewalt einsetzen. Tatsächlich startete die Volksrepublik derartige Versuche, die bislang allerdings aufgrund von US-Interventionen fehlschlugen.

Gleichzeitig wirkten die Vereinigten Staaten in den 1970ern auch darauf hin, dass Taiwan sein verhältnismäßig großes Militär immer weiter reduzierte. Das Land belegt international weiterhin Platz 16 der größten Militärs nach Anzahl der Soldaten. Dabei sind trotz verpflichtendem Wehrdienst für junge Männer und Frauen ungefähr ein Drittel der Soldaten freiwillig aktiv. Allein hätte der Inselstaat keine Chance, einen Kampf gegen die militärisch deutlich besser ausgestattete Volksrepublik zu gewinnen. Taiwan verfügt gerade einmal über ein Sechstel Soldaten, im direkten Vergleich zu China. Peking unterhält zudem achtmal so viele Kriegsschiffe und -flugzeuge, sogar 25-mal so viele U-Boote wie Taipeh. Die Volksrepublik verfügt über Bomber sowie Nuklearwaffen. Taiwan verfügt weder über das eine noch über das andere.

Doch 1968 sicherten die USA Taiwan, per Vertragsschluss, militärischen Beistand zu, sollte es zu nuklearen Angriffen seitens des Festlandes kommen. Obwohl die USA die Insel politisch nicht als souveränen Staat anerkennen, kategorisierten sie Taiwan in diesem Vertrag als schützenswerte „Nicht-Nuklear-Macht“. Für diesen Vertrag verzichtete der Inselstaat wenige Jahre später sogar darauf, selbst Nuklearwaffen zu unterhalten, obwohl es ihnen zu diesem Zeitpunkt praktisch möglich gewesen wäre. Stattdessen setzte man 1979 einen neuen, erweiterten Vertrag auf; den sogenannten „Taiwan Relations Act“ (TRA). Neben nuklearen Gefahren steht jetzt auch die wirtschaftliche Instabilität durch Boykotte und Embargos seitens Chinas auf der Liste der Szenarien, in denen die USA unterstützend eingreifen würden. Zudem sehen sich die Vereinigten Staaten zur Intervention verpflichtet, sollte China „jedwede Versuche unternehmen, die Zukunft Taiwans auf andere als friedfertige Weise zu bestimmen“. Mit Inkrafttreten des TRA lieferten die USA immer mehr Waffen nach Taiwan. Dem TRA folgte wiederum ein drittes, wichtiges Abkommen; der „Taiwan Security Enhancement Act“ (TSEA). Dieses Abkommen geht so weit, als dass Washington und Taipeh von diesem Zeitpunkt an praktisch als Militärallianz gelten. China reagierte auf diesen Vertrag mit heftigen Protesten.

Doch den Chinesen sind vor allem die auf dem Inselstaat und um den Inselstaat herum stationierten US-Soldaten ein Dorn im Auge. Mehr als 100.000 von ihnen sind im südostasiatischen Raum stationiert. Die Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und Japan bzw. Südkorea, zwei Staaten in unmittelbarer Nähe zu China und Taiwan, spitzt den Konflikt für die Volksrepublik umso mehr zu. Das nach Ende des Zweiten Weltkrieges eigentlich pazifistische Japan ist nach US-Angaben in den Taiwankonflikt involviert und investiert seit den 1990ern tatsächlich wieder massiv in das eigene Militär. Die Aufrüstung dient laut eigenen Angaben jedoch lediglich der Verteidigung.

Die Konfrontation zwischen Nord- und Südkorea spielt eine sicherheitspolitische Schlüsselrolle in der Region und ist potenziell kriegsentscheidend, auch über die koreanische Halbinsel hinaus. Als Verbündete Südkoreas spielen die USA auch hier eine entscheidende Rolle. Von China aus gesehen, bildet Taiwan also zusammen mit Südkorea und Japan sowie den ebenfalls amerikanisch dominierten Philippinen eine Art geschlossenes Tor zum Pazifik.

Das Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Insel Taiwan durchaus auch sicherheitspolitisch interessant für die Volksrepublik China ist. Eine Vereinigung beider Staaten würde z.B. das amerikanisch dominierte, geschlossene Tor zum Pazifik zumindest ein Stück weit öffnen. Daran lässt sich allerdings auch sehr gut erkennen, dass der übergeordnete Konflikt in dieser Thematik kein direkter Konflikt mit der Insel Taiwan ist, sondern ein Konflikt zwischen den Großmächten; zwischen China und den Vereinigten Staaten von Amerika. Taiwan dient für die Großmächte als „Game-Changer“, da es ihnen geostrategische Vorteile bietet.

Dieses Ergebnis wird auch durch die Tatsache unterstützt, dass von Taiwan selbst faktisch keine Gefahr für die Volksrepublik ausgeht. Das belegen die Zustände der jeweiligen Militärs eindeutig. Taiwan ist ausschließlich mit amerikanischer Unterstützung überhaupt kampffähig. Aber sind Taiwan und die USA auch eine Bedrohung für die Volksrepublik China, nur weil sie kampffähig sind? Die Forschung kann die Berechtigung dieser Sorge nicht bestätigen. Während Taiwan und die anderen Verbündeten der USA (fast) ausschließlich über Defensivwaffen verfügen, demonstriert die Volksrepublik bewusst militärische Überlegenheit und ist in Besitz von Massenvernichtungswaffen – ebenso wie die USA. Doch die Aggressionen gehen eindeutig von China aus. Die Volksrepublik kommuniziert offen über ihre Bereitschaft zu einem Angriffskrieg. Die USA hingegen sichern dem Inselstaat explizit und ausschließlich im Falle einer chinesischen Invasion (defensiven) militärischen Beistand zu.

Trotz der Tatsache, dass die Aggressionen in diesem Fall von China ausgehen und Taiwan und die USA keine direkte Gefahr für die Volksrepublik darstellen, ist es durchaus sicherheitspolitisches Interesse, über nicht-festländische (Militär)standorte zu verfügen. Das erklärt die diplomatische Zusammenarbeit zwischen China und den Südpazifikstaaten. Doch es wäre fraglos einfacher, (Militär)standorte auf eigenem Staatsgebiet zu etablieren, was eine Vereinigung mit der Insel Taiwan praktisch ermöglichen würde. Doch es geht China bei seiner Ausweitung der diplomatischen Beziehung nicht allein um Standorte. Die Softpower, die die Volksrepublik dadurch erlangt, spielt ebenso eine große Rolle. Durch geschicktes Bündnisschließen mit strategisch relevanten Staaten, nimmt China gezielt Einfluss auf politische Machenschaften, sogar Wahlen, die mit Krieg im militärischen Sinne nichts zu tun haben. Die Volksrepublik erschließt sich gekonnt Wege, um eigene – auch sicherheitspolitische – Interessen mit Hilfe anderer Staaten zu demonstrieren und durchzusetzen. Dabei spielen sowohl direkte diplomatische Beziehungen eine Rolle, aber auch die Präsenz und vor allem Dominanz in der internationalen Politik. Auf diesem Wege lässt sich eine Einmischung Taiwans verhindern, sodass eigene Interessen nicht (oder nur sehr beschränkt) angegriffen werden können. In diesem Bereich nutzt China seine stetig wachsende Softpower aus. Diese darf nicht unterschätzt oder der militärischen Überlegenheit anderer Staaten und Bündnisse untergeordnet werden.

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