„Wer mit der Freiheit von Menschen spielt, muss den Druck Europas spüren“

Die Politikerin Gyde Jensen (FDP) ist mit 30 Jahren die jüngste Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses. Wir durften sie interviewen.


Lesefunk: Vor ein paar Wochen warst du auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wo vor 30 Jahren eine Studentenbewegung gewaltsam niedergeschlagen wurde. Wie war dort die Stimmung?

Gyde Jensen: Leider wurden uns unerwartet und kurzfristig angesetzte Termine von der Kommunistischen Partei abgesagt, weshalb wir die Gelegenheit genutzt haben, das politische Peking besser kennenzulernen. Der Platz des Himmlischen Friedens ist einer dieser Orte, an dem traurige Weltgeschichte geschrieben wurde. Dementsprechend war die Stimmung. Unwohl wird einem bei dem Gedanken, dass jeder Schritt von unzähligen Kameras überwacht wird. Ein Ausmaß an Überwachung, das wir uns in Deutschland zum Glück kaum vorstellen können. Das macht politischen Protest an so einem Ort unmöglich. Man versteht dort schnell, wie China Meinungsfreiheit als Gefahr begreift. Die Aufarbeitung des Massakers von vor 30 Jahren, als mutige Studenten für Freiheit ihre Stimme erhoben haben, müssen wir gerade deshalb politisch immer wieder einfordern. Das sind wir den Opfern schuldig.

Lesefunk: Regierungsfunktionäre sagten mit der FDP-Delegation kurzfristig ein Treffen ab, weil ihr auch Oppositionelle in Hongkong getroffen habt. War der vorzeitige Besuch in Hongkong auch symbolisch gemeint?

Gyde: Die Sensibilität bei der Achtung der Menschenrechte erfordert mit allen Seiten zu sprechen, um wirklich etwas zu erreichen und Hintergründe zu verstehen. Das haben wir uns auch für diese Reise vorgenommen. Wir haben uns deshalb sowohl mit dem Vizeminister für Wirtschaft Hongkongs getroffen, als auch uns mit Oppositionspolitikern Hongkongs und der Zivilgesellschaft ausgetauscht. Wir lassen uns als gewählte Abgeordnete nicht vorschreiben, wen wir wann und wie treffen. Wir wollen schließlich in einen echten Dialog kommen. Entsprechend unverständlich fand ich die kurzfristige Absage.

Lesefunk: Hältst du die Aussage der Regierung in Hongkong bezüglich der Verfassungsänderung für glaubwürdig? In der Stadt wird nach wie vor demonstriert.

Gyde: Es geht bei den Demonstrationen in Hongkong schon lange nicht mehr nur um das Auslieferungsabkommen. Der zunehmend autoritäre Machtanspruch Chinas macht vielen zurecht Angst ihre Freiheiten zu verlieren. Wenn Carrie Lam etwas zur Deeskalation beitragen wollte, würde sie sagen, das Gesetz ist vom Tisch und es wird eine unabhängige Untersuchung der Gewalt zwischen Polizei und Demonstranten geben. Die Demonstranten wollen nicht, dass durch die Hintertür Systemangleichungen stattfinden, obwohl China Hongkong Freiheiten zugesichert hat. Für uns muss hingegen klar sein: Das Prinzip “Ein Land, zwei Systeme”, auf das sich China verpflichtet hat, darf nicht in Frage gestellt werden.

Lesefunk: China verletzt bis heute Menschenrechte. Zum Beispiel ist die Volksrepublik inzwischen ein kompletter Überwachungsstaat, Stichwort Kameras. Wie sollte Europa darauf reagieren?

Gyde: Wir dürfen keine Gelegenheit auslassen, Menschenrechtsverletzungen gegenüber China anzusprechen. Das Social-Credit-System und die totalitären Überwachungsfantasien Chinas sind nicht mit den Menschenrechten vereinbar. Im November erst wurde die Situation der Menschenrechte in China vor dem Menschenrechtsrat in Genf überprüft, wo sehr deutliche Kritik der Staatengemeinschaft geäußert wurde. Das allein wird aber nicht reichen. In Europa müssen wir insgesamt selbstbewusster auftreten, mit einer Stimme sprechen und deutlich machen, dass Menschenrechte universell gelten. Wir müssen den Chinesen deutlich machen, dass die Missachtung der Menschenrechte nicht nur die politische Glaubwürdigkeit Chinas untergräbt, sondern auch wirtschaftlich schadet.

Lesefunk: Glaubst du, man sollte die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China einschränken, um sie unter Druck zu setzen?

Gyde: Das kommt ganz auf das Verhalten Pekings an. Ein gewaltsames Eingreifen in Hongkong können wir beispielsweise nicht einfach hinnehmen und sollten Sanktionen in diesem Fall nicht ausschließen. Generell müssen wir aber die Vorteile eines freiheitlichen Wirtschaftssystems immer wieder hervorheben, denn die größte Ressource der Sozialen Marktwirtschaft ist die Kreativität und Innovationskraft jedes Einzelnen. Man muss auch schauen, welche Möglichkeiten gerade große Unternehmen haben, Interessen zu formulieren, die sie sicherlich haben. Ein Konzern wie Siemens zum Beispiel hat schließlich auch ein Interesse daran, dass die eigenen Mitarbeiter nicht ausspioniert werden. China erwartet umgekehrt auch, dass wir uns an die vereinbarten Regeln halten. Ich bin überzeugt, dass man mit diesem Ansatz mehr erreichen kann. Genauso bin ich überzeugt, dass ein System, wie Präsident Xi Jinping es gerade versucht auszubauen, nicht für die Ewigkeit gemacht ist. Wir müssen als Europa an der Seite derjenigen stehen, die sich für ihre Freiheiten einsetzen.

Lesefunk: Zu einem anderen Thema: Präsident Putin regiert seit 20 Jahren. Wie demokratisch ist Russland noch?

Gyde: Wir müssen nur den Fernseher oder das Radio anschalten. Momentan gibt es viele Proteste, nicht nur, aber vor allem in Moskau. Dort demonstrieren viele junge Leute und auch Oppositionelle, die aus fadenscheinigen Gründen nicht zu den Kommunalwahlen zugelassen wurden. Präsident Putin ist in einer ähnlichen Situation wie Präsident Erdogan, der in der Fläche seines Landes die Mehrheiten seiner eigenen Partei schwinden sieht. Auch wenn Russland, anders als die Türkei, keine gelernte Demokratie ist, sieht man in beiden Ländern wie aktiv die dortige Zivilgesellschaft ist. Die Begrenzung von Wahlmöglichkeiten der Opposition ist ein klassischer Schachzug, zu dem Diktatoren greifen, um die eigene Macht zu erhalten. Dies wird erreicht durch weniger Sendezeiten im Wahlkampf, durch die Nichtzulassung von Kandidaten. Das ist alles andere als demokratisch, weshalb die Wahlen in beiden Ländern auch nicht als solche bezeichnet werden können. Man muss sich das einmal klar machen. Während wir uns in Deutschland auf einem Parteitag frei zur Wahl stellen können, müssen russische Oppositionspolitiker sogar in Kauf nehmen, eingesperrt, auf offener Straße angefeindet oder sogar vergiftet zu werden. Die Bilder und Videos von der Brutalität der Polizei gegenüber friedlichen Demonstranten sind mit einer Demokratie, die zivilen Protest schätzt, nicht vereinbar. Die Entscheidung, Russland erst vor wenigen Wochen wieder in den Europarat aufzunehmen, zeigt vor diesem Hintergrund einmal mehr, dass sich keine Standhaftigkeit gegenüber Autokraten nicht lohnt.

Lesefunk: Im Jahr 2014 annektierte Russland die ukrainische Krim. Ist die Krimkrise heute noch aktuell?

Gyde: Auf jeden Fall. Bei den Parlamentswahlen zum Beispiel waren die Ukrainer auf der Krim nicht einmal in der Lage, ihre Stimme abzugeben, weil es keine Wahlurnen auf der Krim gab. Die Krimkrise wird so lange aktuell bleiben, wie Russland nicht bereit ist, Völkerrecht anzuerkennen.

Lesefunk: Einige sagen, dass die Ukraine nur ein erster Schritt ist und Präsident Putin eigentlich Europa insgesamt im Visier hat. Siehst du das ähnlich oder entspannter?

Gyde: Wir müssen legitime Sicherheitsinteressen, insbesondere der baltischen Staaten, in Europa sehr ernst nehmen. Auch die Äußerungen Präsident Putins, den Zerfall der UdSSR als die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts zu bezeichnen, sollte nicht unterschätzt werden. Wichtig ist, dass wir Europäer diese geopolitische Dimension erkennen, Bündnisse stärken und auch bei Projekten wie NordStream2, eine gemeinsame europäische Außenpolitik danach ausrichten.

Lesefunk: Selbst international macht Putin nicht Halt: Mit Russia Today macht er im Ausland Propaganda und setzt Geheimdienstagenten auf seine Feinde an, die im Auftrag auch töten. Wer weist Putin in seine Schranken?

Gyde: Die Europäer haben gezeigt, dass sie gegenüber Russland mit einer Sprache sprechen können. Europa muss seine Glaubwürdigkeit beibehalten, ob es um die Vergiftung von Menschen oder die völkerrechtswidrige Annexion der Krim geht. Gegen den Einfluss von ausländischer Propaganda hatte konkret mein Fraktionskollege Konstantin Kuhle letztens einen guten Vorschlag unterbreitet, Informationen der Deutschen Welle mit seiner geballten Auslandsexpertise auch im Inland auf z.B. Russisch zu senden, sodass das Informationsangebot für Menschen mit nur geringen Deutschkenntnissen nicht nur von Russia Today abhängig ist. In Zeiten von FakeNews und Falschinformationen ein richtiger Ansatz, aber auch für eine Einwanderungsgesellschaft eine Selbstverständlichkeit. Im Menschenrechtsbereich müssen wir darüber hinaus Menschenrechtsverletzungen auch individuell stärker sanktionieren. Zusätzlich zu den richtigen Sanktionen gegenüber Russland insgesamt, müssen wir stärker auf ein solches Instrument zurückgreifen.

Lesefunk: Die Philosophin Ágnes Heller bezeichnete Putin als einen Tyrannen, wie Erdogan. Würdest du das so unterschreiben?

Gyde: Ob Tyrann, Autokrat oder Despot. Wer mit der Freiheit von Menschen spielt, ihnen ihre Rechte verwehrt, muss den Druck Europas und der internationalen Gemeinschaft spüren.

Interviewt von Julian Vögel (@j_voegel) in Zusammenarbeit mit Joris Stietenroth (@joris-stietenroth)

One Reply

Schreibe einen Kommentar