Die Wurzeln des Brexits

Das Vereinigte Königreich möchte den Brexit seit dem Referendum am 23. Juni 2016 – denkt man. Formell ist es schon aus der EU ausgetreten, doch der Brexit-Streit geht weiter. Sind vier Jahre nicht genug? Nein. Die Wurzeln des Brexits gehen tiefer.

Streit seit dem EU-Beitritt

Großbritannien trat am 1. Januar 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bei, der Vorgängerorganisation der EU. Bereits vorher hatte es 1961 und 1967 Beitrittsversuche gegeben, doch der französische Präsident Charles de Gaulle hatte ein Veto eingelegt. Erst unter dem konservativen Premier Edward Heath erfolgte der Beitritt. Ein Jahr später, 1974, gewann die damals europakritische Labour-Partei die Unterhauswahl. Harold Wilson, zum zweiten Mal Premierminister, initiierte daraufhin auf Drängen seiner Partei das erste “Brexit”-Referendum, das 1975 stattfand. Die Konservativen waren mehrheitlich pro-europäisch eingestellt. Selbst die Vorsitzende Margaret Thatcher, die spätere Eiserne Lady, unterstützte die Remain-Kampagne. Etwa zwei Drittel stimmten für den Verbleib, ein Drittel dagegen (bei einer Wahlbeteiligung von 65 %). Bis in die späten 1980er-Jahre war die Labour-Partei bekannt für ihre Europakritik. Die Situation änderte sich jedoch unter Margaret Thatchers Zeit als Premierministerin, die von 1979 bis 1990 regierte. Sie vertrat einen neuen Konservatismus, der auf Reformen setzte. Die Thatcher sah die EWG zunehmend als lästige Vereinigung, die ihre Politik behinderte. Hinzukam die Konkurrenz durch die 1993 gegründete United Kingdom Independence Party (UKIP). Von da an waren die Tories, die Konservativen, die Europaskeptiker.

Zwei politische Lager

In Großbritannien herrscht ein Mehrheitswahlsystem. Das heißt, dass die Unterhaus-Abgeordneten direkt in ihren Wahlkreisen gewählt werden. Die Kandidaten mit den meisten Stimmen gewinnen. So dominieren zwei große Parteien die britische Politik, die Labour Party und die Conservative Party. Da es nur zwei große Konkurrenten gibt, versuchen sie aus taktischen Gründen, sich stark voneinander zu unterscheiden. So vertreten die Tories das Lager rechts der Mitte, die Labour wiederum das Lager links der Mitte. Das ist nichts Neues, doch die beiden Parteien rücken immer weiter auseinander. Zur Verdeutlichung: Der jetzige Parteichef der Konservativen, Boris Johnson, war 2016 Anführer der Leave-Kampagne, während seine Partei tendenziell die gegensätzliche Position vertrat. Er ist also relativ rechts, obwohl viele vermuten, dass Johnson aus bloßer Taktik für den Brexit Wahlkampf machte. Dennoch lässt sich sagen: Johnson ist EU-Gegner, auf der rechten Seite. Der Parteichef der Labour hingegen war bis vor Kurzem Jeremy Corbyn, der bekannt für seine deutlich linken Positionen ist. Im Brexit-Wahlkampf unterstützte die Labour die Remain-Kampagne. Corbyn, auch damals Parteichef, hätte folglich die Briten überzeugen sollen, für den Verbleib in der EU zu stimmen. Doch Corbyn machte nahezu nichts, und wenn er über die EU sprach, rekapitulierte er nur die Positionen seiner Partei. Auch er ist gegen die EU, nur auf der linken Seite.

Die Mitte fehlte

Im Brexit-Wahlkampf gab es also laute Leave– und leise Remain-Unterstützer. Pro-europäisch ist bekanntlich eher die Mitte als die politischen Ränder. Da aber die beiden großen Parteien an ihren Lagern festhielten und keine eine klare Remain-Position vertrat, die es jedoch 1975 gab, hatte die Remain-Kampagne eine schlechte Ausgangslage. Und dadurch, dass keine der kleineren mittigen Parteien viel Einfluss hatte, gab es keine nennenswerte Alternative. Das Ergebnis ist bekannt: Der Brexit bekam 2016 eine Mehrheit.

Der Brexit bleibt (ein Thema)

Nach langen Verhandlungen trat Großbritannien am 1. Februar 2020 aus der Europäischen Union aus, offiziell. Es gibt aber bis zum Jahresende eine Übergangsphase, in der Großbritannien und die EU über ein Abkommen über die zukünftigen Beziehungen verhandeln. Die Verhandlungen sind heute noch nicht fertig. Die Zeit drängt, denn eine Verlängerung der Übergangsphase ist nicht mehr möglich. Am 5. Dezember trafen sich sogar Premierminister Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen persönlich zu Brexit-Gesprächen.

Wer denkt, der Brexit werde mit dem 1. Januar 2021 künftig unwichtig, der irrt sich. Zumindest seit dem EWG-Beitritt des Vereinigten Königreichs quält es sich mit der Frage, ob es auch politisch zu Europa gehören soll. Nach dem Brexit werden wieder viele zurück in die EU wollen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann Großbritannien den vierten Beitrittsantrag stellt.

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