Äthiopien – ein Staat am Abgrund?

Konflikte im „globalen Süden“ werden bei uns oft nur mit sporadischem medialen Interesse begleitet und gerne auf unterkomplexe Formeln und Beschreibungen eingedampft. Diese Form der Berichterstattung begleitet auch den aktuellen Konflikt in Äthiopien, wenngleich dieser keineswegs unterkomplex ist und große regionale Sprengkraft besitzt.

Der Zentralregierung in Addis Abeba unter Premierminister und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed gegenüber steht in diesem Konflikt die Tigray People’s Liberation Front (TPLF). Vordergründiger Auslöser war die Entscheidung der Regionalregierung Tigrays, Regionalwahlen abzuhalten, obwohl die Zentralregierung eine Verschiebung der regionalen und nationalen Wahlen aufgrund von COVID-19 angeordnet hatte. Die TPLF hätte bei der Regionalwahl mutmaßlich alle Sitze gewonnen, die Zentralregierung erklärte das Ergebnis für nichtig und wenig später wurden die Kampfhandlungen aufgenommen. Westliche – auch deutsche – Medien vergleichen Äthiopien als ethnoföderalistischen Staat gern mit Jugoslawien, ein greifbarer, wenn auch in diesem Fall hinkender Vergleich. Zweifelsohne hat die Zentralregierung Probleme, die ethnisch diverse Peripherie zusammenzuhalten, jedoch ist der aktuelle Konflikt zwischen Abiys Regierung und der TPLF kein Konflikt um die Autonomie der recht kleinen Tigray-Region, in der gerade einmal 6% der äthiopischen Bevölkerung leben. Es geht vielmehr um die Kontrolle über Äthiopiens wirtschaftliches und politisches System, die die TPLF an der Spitze ihrer Koalition (EPRDF) beinahe 30 Jahre lang innehatte und um jeden Preis zurückerlangen will. Um zu verstehen, worum sich die bewaffnete Auseinandersetzung tatsächlich dreht, ist ein Überblick über Äthiopiens Entwicklung und aktuelle Lage dienlich.

Ein Land mit Geschichte – und Problemen

Mit 108 Millionen Einwohnern und einem Bevölkerungswachstum von 2,83% ist Äthiopien das zweitbevölkerungsreichste Land Afrikas. Äthiopien hat außerdem eine extrem junge Bevölkerung, der Altersdurchschnitt liegt bei 19,5 Jahren (zum Vergleich: das deutsche Durchschnittsalter beträgt 44,5 Jahre), über 40% der Bevölkerung sind unter 15. Etwa 35% der Äthiopier sind ethnische Oromo, 28% Amhara; die Tigray machen gerade einmal etwas über 7% der Bevölkerung aus. Allein seit Abiys Amtsübernahme 2018 starben hunderte Äthiopier im Rahmen ethnischer Konflikte.

Mit Ausnahme der italienischen Besatzung 1936-1941 war Äthiopien als einziger Staat Afrikas frei von kolonialer Herrschaft. Die Militärjunta der Derg setzte 1974 den seit 1930 regierenden Herrscher Haile Selassie ab und etablierte einen sozialistischen Staat. Nachdem sie an der Seite der Eritrean People’s Liberation Front 1991 im Rahmen einer Rebellenkoalition Mengistu Haile Mariams Militärregierung beseitigt hatte, dominierte die TPLF beinahe 30 Jahre lang die Politik Äthiopiens. Nach dem Fall der Militärjunta spaltete sich 1993 Eritrea von Äthiopien ab und Meles Zenawi, Anführer der TPLF, regierte Äthiopien bis zu seinem Tod 2012. Hailemariam Desalegn, sein Stellvertreter, trat an seinen Platz; die erste friedliche Machtübergabe seit Jahrzehnten. 2018 trat er im Zuge von Anti-Regime-Protesten zurück und Abiy Ahmed kam als erster ethnischer Oromo in das Amt des Premierministers.

Äthiopien verfügt in Teilen des Landes über weitläufige landwirtschaftliche Nutzflächen. Die 1994 verabschiedete Verfassung ermöglichte der TPLF-geführten Koalition den öffentlichen Besitz dieser Nutzflächen, welche diese wiederum an Investoren verpachtete und so Milliarden generierte. Die so verpachtete Fläche entspricht in etwa der Fläche der Niederlande. Internationale Spenden (allein die im Schnitt etwa 3,5 Mrd. US$ jährliche Entwicklungshilfe) machten lange ungefähr die Hälfte des äthiopischen Haushaltes aus. Die TPLF-Regierung bediente sich außerdem großzügig an Krediten internationaler privater und öffentlicher Geldgeber, von denen der größte die Volksrepublik China war und ist. Als Abiy 2018 ins Amt kam, bestand das äthiopische BIP zu 60% aus diesen Krediten. Äthiopien verfügt außerdem über kleinere Gold-, Platin-, Kupfer-, Kali- und Gasreserven, sowie nutzbares Wasserkraftpotenzial. 70% der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft beschäftigt, den größeren Beitrag zum BIP leistet jedoch seit kurzem der Dienstleistungssektor. Schlüsselsektoren der äthiopischen Planwirtschaft – wie Telekommunikation, Bankwesen, Versicherungen – befinden sich im Besitz des Staates.

Bereits ohne den Bürgerkrieg ist Äthiopien von einer Vielzahl von Problemen geplagt: das explodierende Bevölkerungswachstum übt drastischen Druck auf die Ressourcen des Landes aus, was zu einer kontinuierlichen Verschlechterung der Umweltumstände und immer höherer Anfälligkeit für Nahrungsmittelknappheiten führt. Und das Problem verschärft sich: jede äthiopische Frau bekommt im Durchschnitt fünf Kinder, in ländlichen Gegenden oft deutlich mehr. Armut, Hunger, Dürre, politische Repressionen und Zwangsumsiedelungen führen seit den 1960ern immer wieder zu größeren Migrationswellen. Die brutale Herrschaft der Militärjunta der Derg und nach ihrem Ende die Vielzahl diverser ethnischer Konflikte befeuern diese Migrationstendenzen. Äthiopien hat zwar eine sehr geringe wirtschaftliche Ungleichheit (der GINI-Koeffizient Äthiopiens gleicht denen der skandinavischen Staaten), gehört allerdings trotz langwieriger Versuche der Armutsbekämpfung zu den ärmsten Ländern des Planeten.

Äthiopiens Politik ist stark bestimmt von ethnischen Konflikten, Grenzstreitigkeiten und Konflikten um die Nutzung des Nilwassers. Seit der Abspaltung Eritreas von Äthiopien haben die beiden Länder Grenzstreitigkeiten, die in den späten 1990ern zum Krieg führten. 2002 stimmten zwar beide Seiten einem Vorschlag zur Demarkation einer Grenze zu, der offizielle Verlauf ist jedoch weiterhin umstritten. Auch mit dem Sudan gibt es anhaltende Konflikte über die Demarkation der jeweiligen Grenze. Mit Sudan und Ägypten gibt es außerdem Streitigkeiten über den Bau des äthiopischen „Grand Ethiopian Renaissance Dam“ (GERD), einem Staudamm, mit dessen Hilfe Äthiopien den blauen Nil, den Hauptzufluss des Nil, aufstauen will. Besonders Ägyptens Landwirtschaft ist von dem Zufluss des blauen Nils extrem abhängig, ein Aufstauen des blauen Nils durch den GERD würde auch die Leistung des sudanesischen Roseires-Damm sowie des ägyptischen Aswan-Damm beeinträchtigen. In trilateralen Gesprächen („GERD-Talks“) ist bisher keine Einigung in Aussicht. Die angespannte Lage in Äthiopien könnte für Ägypten ein Zeitfenster für drastischere Maßnahmen öffnen; jedenfalls bleibt das GERD-Projekt ein Pulverfass. Äthiopien ist außerdem durch zahlreiche innere ethnische Konflikte und Sezessionsbestrebungen belastet, zum Beispiel der Unabhängigkeitskampf der ethnischen Somali in der östlichen Provinz Ogaden. Anders als die Somali kämpft die TPLF nicht für die Sezession Tigrays oder mehr Autonomie, sondern will die einst besessene Kontrolle über das äthiopische System zurückerlangen oder sich wenigstens erneut festsetzen.

Während ihrer Herrschaft dominierte die TPLF die äthiopische Wirtschaft über ein massives Konglomerat, bestimmte die Mitglieder der Aufsichtsräte wichtiger Unternehmen und die Patriarchen der religiösen Gemeinschaften. Die TPLF konnte sich damals so lange an der Macht halten, da große Geldgeber in Bereichen der Entwicklungshilfe – die EU und die USA – die offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen gern übersahen, da das Land wirtschaftliche Fortschritte zu machen schien und effektiv die islamistischen al-Shabab Milizen im benachbarten Somalia bekämpfte. Ihre Vormachtstellung endete, als 2018 innerhalb der TPLF-geführten Regierungskoalition zwei Parteien der Oromo und Amhara, der beiden größten Ethnien Äthiopiens, gemeinsam den Oromo Abiy Ahmed in das Amt des Premierministers wählten. Diesen „Verrat“ hatte die TPLF nicht kommen sehen. Seitdem ist Abiy beschäftigt, die privilegierte Stellung der Tigray und der TPLF aufzubrechen und ihren Einfluss weitestgehend auf die kleine nordwestliche Provinz Tigray zu beschränken. Verstaatlichte, von TPLF-Günstlingen verwaltete Unternehmen sollen privatisiert werden, neue Bank- und Währungsreformen die Korruption beseitigen, TPLF-Personal im Militär und Sicherheitsapparat wurde ersetzt, politische Gefangene freigelassen, Konten eingefroren. Der Konflikt ist kein ethnischer oder föderalistischer; Die TPLF sieht durch Abiys Reformen ihre Machtposition schwinden und ist nicht bereit, einen friedlichen Übergang zuzulassen. Es ist wichtig zu verstehen, dass Abiy nicht gegen die Tigray-Ethnie oder die Region an sich kämpft, nicht gegen Aufwiegler oder Separatisten, sondern gegen das rachsüchtige alte Regime, das um seinen schwindenden Einfluss ringt.

Eine Lösung am Verhandlungstisch? Oder lieber nicht…?

Die Strategie der TPLF zielt auf eine Schwachstelle der internationalen Gemeinschaft: diese wird, so hofft die TPLF, im Angesicht der Gewalt eine Verhandlungslösung einer blutigen Fortsetzung der Kämpfe vorziehen und so die Position der TPLF legitimieren. Die Regierung unter Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed steht natürlich denkbar schlecht da, da sie bisher aus genau diesem Grund eine Verhandlungslösung ablehnt, und so wächst der internationale Druck auf die Regierung in Adis Abeba. Wie diese Strategie funktioniert, erklärt Hailemariam Desalegn, der früher selbst Premierminister Äthiopiens an der Spitze einer TPLF-geführten Koalition war, in Foreign Policy. Der genaue Stand des Konfliktes ist schwierig zu ermitteln, da die Internetverbindung sowie Straßen in die betreffenden Gebiete weitgehend abgeschnitten sind; die Regierung kündigte jedoch nach Ablauf eines Ultimatums einen Sturm auf die Provinzhauptstadt Mekele an. Auf der Gegenseite hieß es, das weiter nordwestlich gelegene Aksum werde gehalten. Bereits jetzt scheint es, eine fünfstellige Zahl an Flüchtlingen zu geben, gerade bei einem Sturm auf Mekele wären neue Flüchtlinge und auch zivile Tote zu erwarten.

Sollten sich internationale Akteure zugunsten einer Verhandlungslösung einmischen, so muss diese Einmischung mit Fingerspitzengefühl erfolgen.  Sie darf sich nicht dazu verleiten lassen, aus scheinbar gutem Willen über eine Verhandlungslösung der TPLF Macht zuzugestehen, ihre vergangenen Verbrechen unter den Tisch zu kehren und ihre Ansprüche zu legitimieren. Der Konflikt hat das Potenzial, Äthiopien zu destabilisieren und die Fortschritte der Regierung Abiy Ahmeds zunichte zu machen, ein bedauerliches Exempel zu statuieren und die Stabilität der gesamten Region zu gefährden. 

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